Mein ganzes Leben lang, so weit ich mich erinnern kann, wurde ich immer als introvertiert und sehr still wahrgenommen. Ja, ich war dieses introvertierte Kind, das nur ein oder zwei Freunde hatte und die Lehrer sagten oft, dass ich immer still sei und wenig aktiv am Unterricht teilnehme (obwohl mir diese Eigenschaft eigentlich die Fähigkeit gab, alles schnell zu verstehen und zu behalten). Ich war nie jemand, der gerne über das Wetter, die Nachrichten oder belanglose Themen sprach, nur um eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Daher kam das Etikett „still“ und „introvertiert“.
Ehrlich gesagt, als Kind war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich so still war oder ob meine Familie so extrovertiert und laut war, dass ich nie die Chance hatte, überhaupt zu Wort zu kommen – oder vielleicht eine Mischung aus beidem. Viele Jahre lang betrachtete ich diese Eigenschaft als Schwäche, geprägt durch die Meinungen von aussen und wuchs mit diesem Glauben auf.
Eines Tages stiess ich jedoch zufällig auf ein Buch mit dem Titel „Quiet“ (auf Deutsch „Still“ von Susan Cain). Das Buch erschien 2013, aber mein Kontakt damit erfolgte erst viel später, nachdem ich bereits mit meiner persönlichen Reise und meiner Ausbildung im Coaching begonnen hatte. Obwohl mir schon bewusst war, dass Introversion ein Thema in meinem Leben war, fehlte mir noch die richtige Perspektive, um es vollständig zu verstehen.
In dieser Zeit erkannte ich auch den Grund, warum ich mich nach der Geburt meiner Kinder so von mir selbst entfremdet fühlte. Die Mutterschaft, die ich als wichtige und besondere Aufgabe betrachtete, brachte nicht nur Freude, sondern auch innere Herausforderungen mit sich. Diese Herausforderungen verstand ich erst wirklich, als ich das Buch las – oder vielmehr, als ich nur die Zusammenfassung auf dem Buchumschlag sah. Eine einzige Zeile liess etwas in mir aufleuchten. Es war, als wäre mein ganzes Leben lang ein Schleier über meiner Sichtweise gelegen, und plötzlich löste sich dieser Nebel auf.
Von diesem Moment an fügte sich alles zusammen. Ich verstand nicht nur, dass an meiner Art zu sein nie etwas falsch war, sondern auch, warum ich mich in den ersten Jahren der Mutterschaft so von mir selbst entfernt fühlte. Der Hauptgrund war, dass mir die stillen Momente fehlten – in einer Phase, in der die Mutterschaft fast 24 Stunden am Tag von mir verlangte (besonders mit einem Kind, das jede Stunde aufwachte).
Ich hatte nicht nur keine Zeit mehr für mich selbst, sondern erkannte auch, dass diese stillen, allein verbrachten Momente meine Art waren, mich mit mir selbst zu verbinden, das Leben zu verarbeiten und wirklich auf mich zu hören.
Plötzlich wurde mir klar, dass meine introvertierte Persönlichkeit mir viele Vorteile gebracht hat:
- Erlebnisse verarbeiten und als Orientierungshilfe nutzen: In stillen Momenten konnte ich die Erfahrungen meines Lebens durchdenken und besser verstehen. Oft, wenn ich allein war, konnte ich mir die Zeit nehmen, um tief in mich hineinzuhören und die wahren Lektionen zu erkennen. Das half mir dabei, klare Entscheidungen zu treffen, die auf innerer Klarheit und nicht auf äusseren Einflüssen basierten.
- Verbindung mit meinem höchsten Selbst und meiner Intuition: Wenn ich Zeit für mich hatte, spürte ich eine tiefe Verbindung zu meinem innersten Selbst. Es fühlte sich an, als ob ich eine innere Führung fand, die mir den Weg zeigte. Vielleicht war ich deshalb immer schon so intuitiv? Ich bemerkte oft, dass ich Dinge vorahnte oder auf eine stille, innere Stimme hörte, die mich richtig leitete – sei es in kleinen alltäglichen Entscheidungen oder grösseren Lebensfragen. Jetzt verstehe ich, dass ich eigentlich täglich eine Art von Meditation mit offenen Augen erlebte.
- Probleme bewältigen und Emotionen fühlen: Introvertiert zu sein hat mir die Fähigkeit gegeben, schwierige Situationen gründlich zu durchdenken und zu verarbeiten. Ich konnte Emotionen tief fühlen und sie auch besser loslassen. Dadurch sammelten sich weniger unverarbeitete Emotionen in mir an, was mir half, mehr innere Ruhe und Gesundheit zu finden. Ich fühlte mich ausgeglichener, da ich meinen Gefühlen Raum gab, anstatt sie zu verdrängen.
- Die positive Seite der Dinge sehen: In der Stille hatte ich auch die Möglichkeit, meine Perspektive zu ändern. Selbst in schwierigen Momenten fiel es mir leichter, die positiven Aspekte zu erkennen und mich darauf zu konzentrieren, was ich lernen konnte. Diese innere Ruhe half mir, fokussierter und handlungsorientierter zu bleiben. Anstatt in Panik zu verfallen, konnte ich die Probleme analysieren und eine klare, ruhige Lösung finden.
Es sind diese leisen Momente, die mir erlauben, tief in mich zu gehen, meine Emotionen und Gedanken zu ordnen und dann gestärkt und mit klarem Kopf wieder in die Welt zu treten.
Hier eine sehr kurze Zusammenfassung des Buches „Still“: Introvertierte Menschen tendieren dazu, tief über Entscheidungen nachzudenken und fühlen sich oft wohler, wenn sie ihre eigene Gesellschaft geniessen können. In einem Kapitel beschreibt Susan Cain, wie Introversion als Kraftquelle dienen kann, indem sie Raum schafft für Reflexion, Kreativität und Selbstfindung – etwas, das extrovertierte Menschen oft in Interaktionen mit anderen suchen. Gerade in einer Welt, die oft von Lautstärke und Extroversion dominiert wird, sind diese leisen Momente Gold wert, da sie uns ermöglichen, das Wesentliche zu erkennen.
Die Momente, die ich mit mir selbst verbringe, sind keine Zeitverschwendung, sondern ein wertvoller Raum für Wachstum, inneren Frieden und Selbsterkenntnis. Diese stillen Phasen halfen mir, mich zu erden und die Herausforderungen des Lebens allgemein zu bewältigen.
Introversion ist keine Schwäche – sie ist eine Stärke in einer lauten Welt, die oft die Wichtigkeit der Stille und der Selbstreflexion vergisst.
Solltest du schon immer ruhig und introvertiert gewesen sein – und vielleicht fühlst du dich oft nicht von anderen wahrgenommen oder gesehen – dann hoffe ich sehr, dass du, genau wie ich, beginnst, diese Charaktereigenschaft als Stärke und nicht als Schwäche zu erkennen.